Wohnpraktikum

Dem Leitgedanken der Arbeit in der Förderschule für geistige Entwicklung folgend, den Schülern unserer Schule ein menschenwürdiges Leben in möglichst weit gehender sozialer Eingliederung zu ermöglichen, kommt dem „Wohnen“ im Rahmen der Sekundarstufe 2 eine besondere Bedeutung zu.

 

Die Grundpfeiler der Arbeit in dieser Stufe sind die Ich-Erfahrung, die Freizeitgestaltung, Arbeit und Beruf, Öffentlichkeit, Umwelt und Umweltschutz und vor allen Dingen auch das Wohnen.

 

Wohnen gilt als Grundbedürfnis des Menschen. Die Wohnung bietet Sicherheit, Geborgenheit, Schutz. Hier fühlt man sich wohl. Es ist das Zuhause: der Ort, von dem man zur Schule oder zur Arbeit geht; der Ort, an dem man Entspannung erfährt; der Ort, von dem aus man Freizeit plant und genießt; der Ort, den man seinen Bedürfnissen entsprechend gestaltet; der Ort, zur Begegnung mit Freunden. Somit hat Wohnen zugleich eine individuelle, soziale, kulturelle und auch politische Bedeutung.

Die Wohnsituationen von Menschen mit einer geistigen Behinderung eröffnen oft nicht die Freiräume, die zu einer weit gehenden Selbstverwirklichung in sozialer Integration notwendig wären. So ist es nicht selbstverständlich, dass geistig behinderte Jugendliche ihr Elternhaus verlassen, um ein eigenständiges Leben zu führen. Eigenständig meint hier sicherlich nicht ein Leben ohne Hilfen, sondern eine Lösung vom Elternhaus, wie dies sich bei anderen Jugendlichen selbstverständlich vollzieht, die sich den individuellen Bedürfnissen entsprechend ihre  Wohn- und Lebenssituation schaffen.

Eltern geistig behinderter Kinder aber auch unsere Schüler selber stehen diesem Prozess der Selbstfindung aus Mangel an Erfahrungen oft hilflos und von Seiten vieler Eltern auch ablehnend gegenüber. Bei vielen Eltern mischt sich ganz schnell ein Schuldgefühl in die Überlegungen mit ein. Schiebe ich mein Kind ab? Aber auch die Frage nach der Gestaltung des „Lebens“ ohne ihr behindertes Kind beeinflusst ihre Entscheidung mit. Eltern haben sich an die jahrelange Mehrarbeit und Hilfen, die sie ihrem behinderten Kind gegenüber leisten mussten, gewöhnt. Sie empfinden es normal immer zuständig zu sein. Oft kommen dann aber mit zunehmendem Alter der Eltern Erschöpfungszustände hinzu, sie können die Arbeit nicht mehr leisten. Wieder entstehen Schuldgefühle gegenüber ihren Kindern, wenn sie aus solchen Gründen ihr Kind in ein Wohnheim geben. Aber auch den jungen Erwachsenen gelingt es nicht ein Leben in „Normalität“ zu führen. Sie bleiben im Elternhaus die zu behütenden Kinder. Ihnen bleibt es häufig verwehrt, Erfahrungen außerhalb des Beziehungsgeflechts Eltern - Kind zu machen.

Dies muss so nicht sein. Gelingt es uns, Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe 2 zu einem möglichst selbstständigen Wohnen zu befähigen, desto leichter, wird dann ihre Eingliederung im Sinne von „Normalisierung“ gelingen. Je frühzeitiger Eltern bereits Erfahrungen mit Wohnkonzepten für ihre behinderten Kinder machen, umso selbstverständlicher gelingt es ihnen diese, ohne Schulgefühle anzunehmen. Eltern können sich so rechtzeitig an das außerhäusliche „Wohnen“ ihrer Kinder gewöhnen, sodass die Ablösung vom Elternhaus im Interesse aller Beteiligten leichter gelingen kann. Hierzu soll das Wohnpraktikum beitragen.

Da die konkrete Wohnsituation in der Schule kaum direkt erfahrbar gemacht werden kann, ist es nötig die konkrete Wohnsituation herzustellen. Das heißt, die Schüler müssen reale wohnpraktische Erfahrungen machen. Die praktische Umsetzung dieser Überlegungen erfolgt hier in Delmenhorst in Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe. Nur dort finden wir die gewünschten realen Wohnsituationen. Hier können dann Schüler erste Erfahrungen mit zukünftigen Lebensformen machen. Eltern werden behutsam mit Wohnformen für ihre Kinder vertraut gemacht.

So besuchen die Schüler und Schülerinnen, wie gewohnt, die Schule an der Karlstraße. Dort erhalten sie ihren Unterricht, der sich in dieser Zeit natürlich projektmäßig mit dem Thema Wohnen beschäftigen wird. Nach dem Unterricht gehen sie nun allerdings nicht in ihr Elternhaus, sondern in „ihre“ Wohnung, „ihr“ Zimmer im Wohnheim. Dort werden sie dann von den Mitarbeitern der Wohngruppe weitergehend betreut. Ihre wohnpraktischen Erfahrungen fließen dann wieder ins Unterrichtsprojekt der Schule ein.

Da unsere Schüler und Schülerinnen mit einem einmaligen Praktikum noch keine hinreichenden Erkenntnisse über ihre eigenen Wohnvorstellungen entwickeln können, ist ein solches Praktikum mehrfach zu wiederholen.

 

Im 10., 11., 12. Schulbesuchsjahr finden insgesamt zwei zweiwöchiges Wohnpraktikum für jeden Schüler statt. Da sowohl aus planungsorganisatorischen Überlegungen der infrage kommenden Wohngruppen, als aber auch aus methodisch - didaktischen Überlegungen des Unterrichts nicht sinnvoll erscheint, dass alle Schüler einer Klasse zur gleichen Zeit ein Wohnpraktikum machen, setzt sich die Gruppe aus unterschiedlichen Klassen zusammen. Hierbei gilt es auch zu berücksichtigen, dass die Gruppe so zusammengestellt wird, dass die Schülerinnen und Schüler auch entsprechende Bezugspartner haben.

Begleitet und vorbereitet wird dieses Vorhaben durch eine intensive Elternarbeit. Um die Eltern rechtzeitig auf die veränderte häusliche Situation vorzubereiten und eine Akzeptanz für ein selbstständigeres Wohnen ihrer Kinder zu erreichen, erscheint es uns ganz wichtig, hier eine umfassende Elternarbeit zu leisten.

 

Auch sollten vorab bereits erste Kontakte hergestellt werden zwischen Vertretern der Wohnheime und den Eltern. So werden die Eltern auf Elternabenden mit dem Wohnpraktikum vertraut gemacht. Hierzu kommen bereits Mitarbeiter der Wohngruppe, um über Wohnen im Allgemeinen aber auch im Rahmen des Wohnpraktikums zu berichten. Überlegungen über künftige Wohnformen ihrer Kinder müssen selbstverständlicher erfolgen. Schwellenängste und Schuldgefühle sollten abgebaut werden.